24. Juni 2006

Propheten


Zu dem, was ich schon als Schüler an der Bibel mochte, gehörten die Pro- pheten. Könige gab es in der Bibel - ja natürlich, wie in jedem Land dieser Zeit. Teils durch Geburt, teils durch brutales Emporkommen zu diesem Rang aufgestiegen. Leute mit Macht, die sich diese ihre Stellung verdient hatten, sie jedenfalls auszuüben verstanden.

Dagegen diese Propheten! Das war etwas Besonderes. Ich habe sie mir damals so vorgestellt wie den Krökel aus Wilhelm Buschs "Tobias Knopp": Zottelgestalten, hohlwangig, mit blitzenden Augen und aufgeregter Stimme. Den Zeigefinger erhoben, die Menge um sich scharend. Im Rausch, wenn auch vielleicht nicht immer im heiligen.



Und, so schildert es uns die Bibel, mit großer Macht ausgestattet. Mit einer Macht, die sie nicht ererbt hatten, die sich sich auch nicht mit dem Schwert erkämpft hatten, sondern die ihnen zugefallen oder, richtiger gesagt, zugeworfen worden war. Von Gott nämlich, der sie erwählt hatte.

Ihr Mittel, diese Macht zugleich zu nutzen und zu mehren, war das Predigen. Sie predigten fast immer Unheil - nicht als eigentliche "Prophezeiung", sondern eher als eine Drohung. Als das, was geschehen werde, wenn - und nur wenn - die Menschen, dh das jüdische Volk es an Frömmigkeit, an Gottesfurcht, an Gehorsam fehlen lassen würde.



Diese Rolle und Funktion des jüdischen Propheten hat, soweit ich sehe, in anderen Kulturen des Altertums ebensowenig eine Parallele gehabt wie später im christlichen Abendland.Gewiß, es gab in der Antike die Pythia und die Auguren - aber das waren Institutionen, staatstragend und schon deshalb nicht auf Unheilverkündigung spezialisiert. Gewiß, es gab im Abendland den Nostradamus, es gab Bußprediger, es gab den Savonarola und die Wiedertäufer - aber das waren Randfiguren. Niemand hat ihre Warnungen in ein heiliges Buch hineingeschrieben. Ihre Namen sind verweht und vergessen, in die esoterische Subkultur abgesunken.



Gibt es ihn also gar nicht mehr, den düsteren Warner, den Moralisten, den Kritiker mit dem erhobenen Zeigefinger? Doch. Nur kleidet er sich nicht mehr ins Gewand des Propheten. Er trägt das lockere Outfit des Intellektuellen.

Es begann in der Epoche der Aufklärung.

Die Philosophen davor waren arme Schweine gewesen - oft verfolgt, wie Giordano Bruno, Galilei, Descartes. Oder die ergebenen Diener ihrer Herrinnen, wie Leibniz. Oder Kleriker, wie der Bischof Berkeley und der Priester Malebranche.

Kant war ungewöhnlich frei, dank der preußischen Gedankenfreiheit. Aber auch er hat Schriften mit einer Unterthänigkeit seinem König dediziert, die uns heute unfaßbar erscheint.

Die Franzosen freilich waren uns schon damals voraus. Voltaire, Diderot, Rousseau, Condillac - das waren allesamt Frechdächse erster Güte. Literaten, Gesellschaftslöwen, oft auch erfolgreiche Geschäftsleute.

Sie waren die Vorbilder der Intellektuellen, wie sie dann im 19. und im 20. Jahrhundert die Bühne betraten und auf ihr agierten. Jemanden einen "neuen Voltaire" zu nennen - Zola ist so genannt worden, Sartre, selbst Karlheinz Deschner -, gilt als hohes Lob für den Écrivain, den Homme de Lettres, den Intellektuellen.



Was ja schön ist. Was mich, einen Intellektuellen of sorts ja auch, sehr freut. Nur waren und sind diese Intellektuellen auch die Nachfahren der Propheten.

Wie diese sind sie eigentlich machtlos. Nicht in die Macht hineingeboren, nicht mit dem Willen oder der Fähigkeit, zur Macht aufzusteigen. Sie begnügen sich mit der Macht des Wortes.

Das heißt, sie beziehen ihre Macht, ihr Ansehen, auch ihr Einkommen, daraus, daß sie in der Rolle des Warners kritisieren, mahnen, aufrütteln, - kurz, uns die Ohren langziehen.



Dazu müssen sie Pessimisten sein, das Schlimmste nicht nur befürchtend, sondern vorhersagend. Als gewißlich eintretend, wenn wir nicht umkehren. Wenn wir nicht ganz lieb werden und auf sie hören, die Propheten.

Sie haben es uns gesagt. Sie sind nicht schuld, wenn wir nicht hören wollen. Wenn wir gar glauben, es sei alles eigentlich doch ganz gut, so wie es ist.

Nein, das sehen sie ganz anders! Was wäre das für ein Prophet, der uns verkündet, wir seien auf dem rechten Weg, es ginge uns gut, die Zukunft sehe rosig aus? Er wäre ein Witzfigur, ungefähr wie ein Vegetarier als Metzger oder ein farbenblinder Maler. Einer, der nicht begriffen hat, was seines Amtes ist.

Nein, der Intellektuelle tut seine Pflicht, indem er uns einen gehörigen Schrecken einjagt. Er zeichnet unsere Lage als hoffnungslos, wenn nicht ernst. Er kritisiert, und er kritisiert das Kritisieren, die Kritik der kritischen Kritik.

Die Politik ist ihm ein Ekel, die Geschäftswelt ein Sumpf. Die Welt, so sieht er sie, ist schlecht. Die Gesellschaft verrottet. Die Natur dabei, zugrundegerichtet zu werden. Schlimm ist es, ganz schlimm.



Die Themen wechseln, denen sich die Unglückspropheten hingeben, das ist wahr.

In den Jahrzehnten vor und nach dem Ersten Weltkrieg war es die "Vermassung", die "Zivilistation" als Niedergang der Kultur, das "Dickicht der Städte", der "Asphalt".

Später dominierten die "Amerikanisierung", der "Konsumterror", die uns angeblich antrainierten "falschen Bedürfnisse".

Zurück zur Kultur, das war die Parole der fünfziger und sechziger Jahre gewesen. Zurück zur Natur, das war die Rousseau'sche Parole der siebziger Jahre.

Aber die Natur ist nun auch fragwürdig geworden. Seit ein paar Jahrzehnten ist die Umwelt, die geschändete, ins Blickfeld der Unglückspropheten gerückt. Der Mensch in seiner Schlechtigkeit richtet sie zugrunde, nimmt künftigen Generationen gar ihre "Lebensgrundlage".

Dauer-Hits sind weiterhin die Verflachung, das Seichte, die Medien usw., wie sie schon zu Oswald Spenglers Zeiten die "Kulturkritik" bestimmt haben. Kurz, es ist zum Verzweifeln.



Ja, haben sie denn nicht Recht, diese Untergangspropheten? Natürlich haben sie Recht. So, wie diejenigen Recht haben, die sich über die Kultur in den Städten freuen, die Asphalt besser finden als Kopfsteinpflaster, die eine globale Erwärmung nicht als katastrophal sehen, die sich am Flachen und Seichten vergnügen.

Wir, die wir nichts mit dem düsteren Blick der Propheten anfangen können, wollen den Propheten diesen ja gar nicht verwehren. Wenn sie sich im Unglück wohlfühlen, wenn ihnen das Schlechteste gerade gut genug ist - warum nicht? Sie sehen einen Aspekt der Wirklichkeit, so wie wir Optimisten, wir Proamerikaner, wir Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigen, wir Technologiefreaks eben andere Aspekte der Realität für die wichtigeren halten.

Sie sollen klagen, jammern, warnen dürfen, die Unglückspropheten. Nur a bisserl mehr Bescheidenheit, die würde ich mir von ihnen wünschen.

Sie sollten uns Optimisten zugestehen, daß man die Welt vielleicht auch positiv sehen, das Leben schön finden und sogar am Kapitalismus seine Freude haben kann.



Sie können ja sagen, die Welt ist so schlecht, daß in ihr sogar Optimisten frei herumlaufen dürfen.